Donnerstag, 21. November 2024

27
April
2012

Über die Aufgabe, Mitarbeiter zu führen

Zwischen Führungs-Anspruch und Führungs-Realität zeigen sich oft Brüche.

Dr. Manfred Hahn über PersonalführungEs gibt viele Ansichten zum Thema Führung. Oft wird auf Kongressen in gewichtigen Worten über den Stellenwert einer modernen Führung für den Unternehmenserfolg referiert. Eine gewisse Ehrfurcht breitet sich dann aus. Alle beschwören die Bedeutung von Führungskraft, Führungsorganisation und Führungskultur in einem Unternehmen.

Im Alltag folgt dann die Ernüchterung. Führung findet nur bedingt statt. Der Chef hat kaum Zeit oder er ist an Führungsthemen wenig interessiert. Der Laden läuft doch. Natürlich gibt es Ausnahmen, Unternehmen, die das Thema ernst nehmen, die es mit System, Augenmaß und Nachhaltigkeit vorantreiben. Das hängt nicht unbedingt von der Größe der Firma ab. Selbst in Kleinstunternehmen treffen wir manchmal auf eine hervorragende Führungskultur.

Ich habe auch schon erlebt, dass angehende Führungskräfte über das Thema Führung nicht sprechen wollten, weil zwischen dem, was gelehrt wird, und dem, was sie täglich erleben, eine solche Diskrepanz liegt, dass es ihnen keinen Spaß mehr machte. Das ist bedauerlich und äußerst bedenklich. Was sagt das über die Zukunft der Unternehmen, in denen dieser Führungsnachwuchs wirken soll?

Mitarbeiterführung bleibt ein hochaktuelles Thema.

Bekannt geworden sind vor allem die Studien des GALLUP Institutes. Seit 2001 befragt es Mitarbeiter in Deutschland nach ihrer Zufriedenheit und ihrer Bindung an ihre Firma. Ein alarmierendes Ergebnis: die emotionale Bindung an die eigene Firma nimmt stetig ab. Generell gilt: Je größer das Unternehmen, desto weniger Bindung des Einzelnen. Eine solche Entwicklung kann richtig teuer werden, denn Mitarbeiter mit hoher emotionaler Bindung arbeiten produktiver, innovativer, kundenorientierter. Als Gründe für diese Entwicklung werden zu niedrige Gehälter, fehlende Handlungsspielräume und Entwicklungsperspektiven und seit einiger Zeit auch ein unausgewogenes Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit (Work-Life-Balance) identifiziert. Aber ausschlaggebend ist an erster Stelle das Führungsverhalten des Vorgesetzten. Eine alte Erfahrung besagt: Bevor ein Mitarbeiter kündigt, gab es meistens einen Bruch mit seinem Vorgesetzten. Oft hat es der Chef gar nicht bemerkt.

Wer führt, muss ein differenziertes Menschenbild entwickeln.

Wer das Thema ernst nimmt, muss sich immer wieder mit den Menschen beschäftigen, die geführt werden sollen. In Abwandlung eines berühmten Satzes des Schriftstellers Max Frisch (1975) zum Thema Gastarbeiter kann man sagen: Wir haben Arbeitskräfte in das Unternehmen gerufen und es sind Menschen gekommen. Menschen lassen sich nicht einseitig auf ihre Arbeitskraft reduzieren. Sie bringen sehr viel mehr mit. Menschen können sich für eine Sache begeistern, können lernen, äußerst nützliche Ideen entwickeln, den Umsatz von Produkten vorantreiben, exzellent beraten und verkaufen – kurz: Sie können ein Unternehmen mächtig voranbringen. Aber Menschen „menscheln“; das heißt: Menschen brauchen Anschluss an andere, brauchen Orientierung, Anleitung, Anreize, Handlungsspielräume, Anerkennung, Rückmeldung, das Gefühl von Sicherheit, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit und Vertrauen. Und noch etwas Wichtiges: Menschen unterscheiden sich zum Teil erheblich in ihren Persönlichkeitsmerkmalen wie: Anspruchsniveau, Begabungs- und Kenntnisprofil, Erfahrungsschatz, Sichtweisen, Antriebsenergie, Motivation, Selbstwertgefühl, Lern- und Arbeitshaltung, körperliche und geistige Beweglichkeit, Belastbarkeit, Reife und Unabhängigkeit des eigenen Urteils, Charakterfestigkeit und moralische Grundsätze. Im informellen Netzwerk einer Firma versuchen viele herauszufinden, welche Spiele dort nach welchen Regeln gespielt werden. Sie stellen sich darauf ein, entwickeln Strategien und streben je nach Entscheidungs- und Handlungsspielraum danach, ihre kleinen oder großen Vorteile zu erringen.

Dann gibt es noch das Leben außerhalb der Firma. Menschen müssen Kinder, Eltern und Kranke versorgen und betreuen, haben selbst vielleicht auch Probleme (Scheidung, Krankheit, unglückliche Beziehungen, Finanzen usw.). Sie haben Hobbys, Leidenschaften, Ehrenämter, private Netzwerke. – Manchmal gibt es außerhalb der Firma ein privates Vakuum, Isolation oder Süchte wie bei vielen Workaholics, die nur noch für die Firma leben.

Viele dieser menschlichen Merkmale sind veränderbar. So ist Motivation nicht in Beton gegossen; sie lässt sich beeinflussen und verändern. Man muss auch unterscheiden zwischen dem Selbstbild und dem Fremdbild eines Menschen. Je nach Selbstwertgefühl kann ein Mensch seine Leistung zu gering oder zu hoch einschätzen. Dann braucht er das richtige Feedback. Für den Führenden heißt dies, möglichst viel über die zu Führenden zu wissen, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.

Führungskräfte sollen Menschen binden und auf gemeinsame Ziele verpflichten.

Wer Menschen in einem Unternehmen führen soll, steht vor der Aufgabe, aus diesen Menschen mit all den vielfältigen Merkmalen produktive Mitarbeiter zu machen, mit deren Hilfe er seinen Auftrag, seine Ziele und die Ziele des Unternehmens erfüllen kann. Das Hauptziel der Führung besteht also darin, Mitarbeiter an die Werte, Ziele, Aufgaben und Personen eines Unternehmens zu binden und ihr Leistungspotenzial voll abzurufen. Es gibt viele Führungsdefinitionen je nach Perspektiven und Interessen. Die hier vorgestellte hat zuerst das Unternehmen mit seinen Werten und Zielen im Blickfeld, denn Mitarbeiter-Führung ist kein Selbstzweck. Sie dient der Selbsterhaltung und dem Wachstum des Unternehmens. Dabei muss sie die Eigenheiten und die Situation der Mitarbeiter nicht nur angemessen berücksichtigen, sondern so weit wie möglich in Einklang mit den Zielen des Unternehmens bringen. Bindung an das Unternehmen geschieht durch Beziehung. Der Erste der diese Beziehung gestaltet, ist der Chef bzw. der direkte Vorgesetzte. Er ist das Bindeglied zwischen Mitarbeiter und Unternehmen. Bindung schafft man durch die Wirkung des eigenen Vorbilds, durch Integrität (Lauterkeit), Respekt und Anerkennung, Einfühlsamkeit, Berechenbarkeit, Ruhe und innere Sicherheit, klare und gerechte Regeln, Zielklarheit, fachliche Kompetenz, Mut, positive Grundstimmung, Ermutigung und Ermächtigung, Beteiligung, Selbstdisziplin, angemessene Offenheit, Schutz und Fürsorge. Wer diese Anforderungen nicht oder nur unzureichend erfüllt – das gilt insbesondere für die Integrität – kann keine oder nur eine unzureichende Bindung herstellen. Es mag sein, dass er auf andere Weise Gefolgschaft erreicht, durch Überredung, Einschüchterung oder Manipulation, aber dauerhaft überzeugen wird er nicht. Die Aufgabe wird erschwert, je mehr Führungsebenen in einem Unternehmen vorhanden sind und je uneindeutiger sein Führungsauftrag ist.

Wer führt, muss die Führungsrolle auch innerlich annehmen. Er muss deutlich machen, welche Werte er vertritt, welche Entscheidungen er sich vorbehält, und warum. Vor allen Dingen darf er nicht flüchten, insbesondere nicht vor den unangenehmen Seiten seiner Aufgabe, wie z.B. Mitarbeiter korrigieren, abmahnen, entlassen, Budgetkürzungen und andere unangenehme Botschaften vertreten. Wenn er hier Fehler macht, verliert er das Vertrauen seiner Mitarbeiter.

Der Mitarbeiter schließt mit dem Unternehmen einen psychologischen Vertrag.

Wenn Mitarbeiter in ein Unternehmen eintreten, gehen sie nicht nur eine rechtliche Beziehung ein in Form eines Arbeitsvertrages, sondern sie schließen auch einen psychologischen Vertrag. In diesem – sehr oft nicht offengelegten – Vertrag tauscht der Mitarbeiter seine Arbeitsleistung und sein Engagement nicht nur gegen ein Entgelt, sondern auch gegen die Erwartung an den Arbeitgeber, fair, gerecht, respektvoll behandelt zu werden. Man spricht hier von „organisationaler Gerechtigkeit“. Darüber hinaus schließen sich noch weitere Erwartungen an, die sich aus den individuellen Lebensumständen und den Charaktereigenschaften des Mitarbeiters ergeben. Beispielsweise wünscht sich die junge Mutter, Assistentin der Geschäftsleitung, die ein krankes Kind zu versorgen hat, dass ihr Chef darauf Rücksicht nimmt und ihr nicht noch zusätzlich mit Bemerkungen oder Zeitdruck das Leben erschwert. Oder der ehrgeizige und erfolgreiche Verkäufer erwartet eine Entwicklungsperspektive in Richtung Vertriebsleiter, weil die jetzige Aufgabe zur langweiligen Routine wird und er mehr Verantwortung übernehmen möchte. Es kann nun nicht die Herausforderung des Chefs sein, alles Mögliche zu versprechen. Selbst wenn er wollte, er ist gar nicht imstande, alle Erwartungen zu erfüllen. Er muss die Situation seines Unternehmens und die seines eigenen Verantwortungsbereiches und das Potenzial des Mitarbeiters berücksichtigen, um dann abzuwägen, was er tatsächlich anzubieten vermag. Er kann mit dem Mitarbeiter ein Gespräch führen. Vieles lässt sich durch verständnisvolles Zuhören, durch Organisation und Absprachen, durch eine Diskussion über die Werte, persönlichen Ziele und das Entwicklungspotenzial des Mitarbeiters klären. Manchmal kann der Chef nichts anbieten, nicht einmal eine Gehaltserhöhung. Dann wird er ihn gehen lassen müssen. Ihm eine „Mohrrübe vor der Nase halten“ wäre unredlich. Um sich vor unliebsamen Überraschungen zu schützen, ist es also hilfreich, die Absichten, Motive und Begabungen seiner Mitarbeiter gut zu kennen.

Was man sich als Chef nicht leisten kann: die Signale des Mitarbeiters ignorieren oder gegen die Regeln der organisationalen Gerechtigkeit verstoßen oder sich uneinsichtig zeigen. – Wie sagte mal der Syndikus einer größeren Firma zum Thema Motivation zu mir, als wir über Anreizdefizite eines Mitarbeiters in seiner Firma sprachen: „Der Mann hat einen Arbeitsvertrag unterschrieben. Das muss Motivation genug sein.“ Diese Sichtweise wird möglicherweise auf Dauer nicht reichen und dem Unternehmen schaden. Wenn wesentliche Teile des psychologischen Vertrages nicht eingehalten werden, kommt es zu Enttäuschungen und früher oder später zur inneren Kündigung. Der Mitarbeiter verabschiedet sich innerlich vom Unternehmen. Das muss nicht heißen, dass er die Firma verlässt. Das hängt von den Alternativen ab, die sich bieten, und der Hartnäckigkeit bei der Suche nach solchen Alternativen. Man kann auch Mitarbeiter spielen, ohne es wirklich zu sein.

Mitarbeiter werden oft unterschätzt. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit der Führung.

Nicht selten begegnet man in den Unternehmen einer seltsamen Logik. Die Firma beschäftigt hoch spezialisierte Angestellte, deren Aufgabe es ist, Informationen zu analysieren, Schlussfolgerungen zu ziehen und Strategien vorzuschlagen. Manchmal braucht es aber auch nur eine Assistentin oder einen Sachbearbeiter mit wachem Blick und klarem Verstand. Von ihnen wird etwas bemerkenswert Widersprüchliches verlangt.

In ihrem Aufgabenfeld sollen sie hellwach sein, clever reagieren, sich nicht von Geschäftspartnern über den Tisch ziehen lassen, die richtigen Konsequenzen ziehen. Von den gleichen Leuten wird in der Firma erwartet, dass sie sich naiv wie Kinder verhalten, dem Chef alles glauben und nicht widersprechen. Ein Beispiel: Der Chef stellt den Mitarbeitern die Planung des nächsten Jahres vor. Er spricht von Expansionsvorhaben, verschweigt Pläne zur Stilllegung von Geschäftsbereichen und zum Abbau von Arbeitsplätzen. In der Firma kursieren die tatsächlichen Pläne, obwohl sie geheim sind. Der Chef erwartet, dass die Mitarbeiter seine Statements kritiklos annehmen. Wenn sich seine Mitarbeiter in ihren Aufgabenbereichen so naiv verhielten, müsste er sie feuern. Am Ende glaubt der Chef, er habe seine Botschaften gut an die Mitarbeiter verkauft. Die Tatsache, dass viele Mitarbeiter schweigen oder dem Chef nach dem Mund reden, führt bei ihm zu einer inneren Abwertung seiner Mitarbeiter. Er hält sie für dumm oder zumindest für schwach. Er kann sich ihnen gegenüber offenkundig sehr viel leisten, sogar Unsinn erzählen. Mit der Zeit merkt er gar nicht mehr, was er seinen Mitarbeitern zumutet. Man kann davon ausgehen, dass die Mitarbeiter sehr wohl beobachten und wissen, was in der Firma vorgeht, viel mehr als diesem Chef lieb ist. Aber sie schweigen, aus Angst, aus Gleichgültigkeit, aus Verantwortungslosigkeit. Sie resignieren. Manche werkeln sogar noch mit an dem Gebilde aus Fantasie und Halbwahrheiten und verbiegen sich. Aus vorauseilendem Gehorsam und der Angst, den Job oder Privilegien zu verlieren, verteidigen sie den Chef. – Schlechte Führung kann Menschen zerstören.

Führen ist Kunsthandwerk, nicht jeder kann es erlernen.

In jedem Unternehmen wird geführt. Wenn es nicht der Chef macht, tut es ein anderer. Das geht auf die Dauer meistens schief, aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Führung findet seit tausenden von Jahren statt. Die Pyramiden hätten sonst nicht gebaut werden können; Hannibal hätte nicht die Alpen mit seinen Elefanten überquert, wenn er nicht gewusst hätte, worauf es bei der Menschenführung ankommt. Im Gegensatz zu früher ist Führung heute systematischer geworden. Es steht eine Vielzahl von Führungstechniken und Instrumenten zur Verfügung. Man kann diese Führungstechniken lernen. Man kann sich Unterstützung durch einen Führungskräfte-Coach holen. Sogar IT-Führungstools helfen. Aber Techniken und Programme ersetzen nicht den integeren Menschen. Sie ersetzen nicht Begeisterung, Taktgefühl, menschliche Zuwendung und die Kunst, das Richtige zur richtigen Zeit zu entscheiden und es auch zu tun.

Geschrieben von Dr. Manfred Hahn Kategorie Unternehmensführung

Über den Autor

Susanne Martin

Dr. Manfred Hahn

spezialisierte sich nach seinem Psychologie- und BWL-Studium in den Bereichen Wirtschafts- und Organisationspsychologie. Er erhielt an der Universität Köln u.a. Lehraufträge zu den Themen Organisationspsychologie, Leistungsmotivationspsychologie sowie Sozialwissenschaftliche Methodenlehre. Außerdem wurde er in Gesprächs- und Gestalttherapie, Verhaltenstraining und Coaching ausgebildet.

Er baute die Führungskräfte-Entwicklung eines Pharma- und Chemie-Konzerns auf. Dort führte er auch eine Reihe von Change-Projekten durch.

Mehrere Jahre leitete er das Ressort Personalmanagement und Organisationsentwicklung einer großen Management-Akademie im Bankenbereich.

1992 gründete er die Dr. Hahn & Partner Unternehmensberatung GmbH. Seine Arbeitsbereiche umfassten hier:

  • Managementberatung (Strategische Planung, Change-Management, Organisationsentwicklung, Krisen- und Konfliktmanagement, Methodenberatung)
  • Human Resources Management (Führungskräfteauswahl, Management-Diagnostik, Personalführung, Führungskräfteentwicklung)
  • Coaching (Führungskräfte-, Gruppen-, Projekt-Coaching, Konfliktmanagement)

Dr. Hahn war zudem zertifizierter Unternehmensberater im Beraternetzwerk des IBWF Institut e.V., der qualifizierten Beraterorganisation des BVMW.
Dort gehörte er dem Vorstand an und war mit der Weiterbildung von Unternehmensberatern beauftragt. Ferner war er zertifizierter Projektmanager.

R.I.P.
Mit großer Bestürzung mussten wir erfahren, dass Dr. Manfred Hahn, unser geschätzer Autor und Kollege, im Mai 2013 verstorben ist.