04
November
2013

Zweiklassengesellschaft auf dem Ausbildungsmarkt

Bezugnehmend auf den Wirtschaftsartikel vom 30. Okt. 2013 aus der "Süddeutschen Zeitung"

Demo_Gast_WahlenMorgens beim Zähneputzen schallte es mir aus dem Radiogerät entgegen: In Bayern sind auch nach dem Start des Ausbildungsjahres 2013 noch zahllose Lehrstellen unbesetzt ... Jugendliche, die im Oktober noch immer auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind, werden mit diesem Radiospot dazu ermuntert, dass es noch nicht zu spät sei. Die Bundesagentur für Arbeit lässt laut eigenen Aussagen nichts unversucht, die Ende September knapp 9300 offenen Lehrstellen und die 1045 jungen Menschen ohne frisch unterschriebenen Ausbildungsvertrag doch noch zusammenbringen zu können. Bis Ende des Jahres möchte man die Ausbildungsplatzsuchenden endlich untergebracht wissen.

Im Angesicht des immer häufiger diskutierten Fachkräftemangels und unter dem Eindruck des demoskopischen Wandels ein in der Tat beängstigender Zustand.

Auf dem Weg ins Büro werde ich dann über mein internetfähiges Mobiltelefon auf einen aktuellen Wirtschaftsartikel der "Süddeutschen Zeitung" vom 30. Oktober 2013 (ein Kommentar von Sibylle Haas) mit dem Titel „Zweiklassengesellschaft auf dem Ausbildungsmarkt" hingewiesen.

Ich tauche also ein in einen Themenkomplex, der sich nur scheinbar bei den jungen Menschen aufhält, welche als „schwer vermittelbar" gelten. Es dreht sich in meiner Wahrnehmung auch um die Menschen, die junge Menschen ausbilden, ob zu Hause, in der Schule oder im Beruf. Auch jene Persönlichkeiten weisen oftmals große Mankos auf, obwohl sie sich einer selbstverpflichtenden großen und verantwortungsvollen Aufgabe täglich stellen.

Die Wirtschaftsredakteurin bemerkt in genanntem Zeitungsartikel eine sich entwickelnde Zweiklassengesellschaft auf dem Markt der Ausbildungsplatzsuchenden. Vor allem junge Menschen aus den sogenannten Problembezirken stammend, womöglich noch mit fehlendem oder schlechtem Hauptschulabschluss, haben es am schwersten auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Ganz zu schweigen von den Kindern mit Migrationshintergrund, welche ohne ausreichende Deutschkenntnisse auf der vergeblichen Suche nach ihrer beruflichen und damit auch persönlichen Zukunft sind. Dabei ist die Sprache der zentralste Punkt, der frühzeitige Förderung benötigt.

Bereits hier klingen die üblichen Versäumnisse gegenüber dem Elternhaus und den Schulen an, welche in der Tat nicht mehr in der Lage sind, Grundwissen und das kleine Einmaleins des Miteinanders jenen Kindern beizubringen.

Viele Firmen, so die Autorin, müssen inzwischen ausgleichen, was von Schule und Elternhaus nicht vermocht wurde zu vermitteln. Nicht wenige Ausbildungsbetriebe geben ihren Schützlingen sogar aus der eigenen Not heraus Nachhilfeunterricht in den verschiedensten Disziplinen. Angefangen bei Pünktlichkeit und noch lange nicht aufgehört bei einfachen Rechenaufgaben, was zwar – wie die Autorin richtig bemerkt – grundsätzlich lobenswert erscheint, doch wie sehr macht uns das deutlich, wie Werte-befreit unsere Gesellschaft heute den Nachwuchs bereits von Kindesbeinen an zu Menschen macht, deren Leben immer sinnentleerter wird?

Und wer oder was füllt diese offenkundige Lücke mit den wahren Werten wieder auf, die das sinngebende Zusammenspiel zwischen Menschen maßgeblich beeinflussen?

Welche fatalen Folgen entstehen überhaupt dabei für Wirtschaft und Gesellschaft?

Und wie kann ich mich selbst bei diesen himmelschreienden Zuständen gewinnbringend einbringen?

Sofort kommen mir verschiedenste Bilder in den Kopf, die maßgeblich mit dem magischen Dreh- und Angelpunkt unser aller Leben ursächlich zusammenhängen: Sozialisation. Jeder hat eine, kaum aber einer denkt über diese reflektiert nach.

Nun hatte nicht jeder von uns die Möglichkeit, in der Oberschicht aufgewachsen und damit weit entfernt von sozialen Brennpunkten zu sein. Es wäre auch in der Tat zu einfach und wenig selbstverantwortlich, wenn es nur darum ginge, was uns unsere Herkunftssozialisation ermöglicht hat oder eben nicht. Das Prinzip der einfachen Schuldzuweisung will ich hier gewiss nicht strapazieren. Vielmehr geht es mir aber darum, was jeder Mensch selbst aus seiner Persönlichkeit macht bzw. welche gesellschaftliche Verantwortung man auf sich nimmt, vor allem der, der um diese bedeutenden Zusammenhänge weiß und womöglich auch noch selbst Ausbildungsplatz-Anbieter ist.

Der Prozess der Sozialisierung eines Menschen ist nie wirklich abgeschlossen. Es bleibt also ein lebenslanger Prozess des Erlernens sozialer Werte, Bedürfnisse, Erwartungen und Interessen, welche auf den Erlebnissen und Erfahrungswerten der ursprünglichen Herkunftssozialisation beruht.

Demnach ist unsere Herkunftssozialisation oder auch primäre Sozialisation maßgeblich für die „Grundsteinlegung" unserer Persönlichkeit verantwortlich. Die wichtigste Instanz hierbei ist und bleibt die Familie. Hier sozialisieren wir uns in unserem soziokulturellen Verhalten, indem wir Normen, Werte, Ziele und Interaktionsmuster annehmen, welche wiederum erhebliche Unterschiede aufweisen, je nachdem, in welcher gesellschaftlichen Schicht wir heranwachsen.

Dabei sagen die Stellung der Eltern im Beruf, die finanzielle Ausstattung der Familie oder deren soziale und kulturelle Möglichkeiten eine Menge darüber aus, ob das Kind mit all dem in Berührung kommen kann, um später beim Personaler als „qualitativ hochwertige/r Bewerber/in" zu gelten.

Wenn Kinder mit großen Defiziten hinsichtlich Sprache, Umgangsformen, Bildung und Ethik auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind, ist in den häufigsten Fällen der weiterhin problematisch verlaufende Werdegang absehbar. Schon lange sprechen Personalverantwortliche davon, dass die Qualität der Schulabgänger häufig nicht mehr mit jener verglichen werden kann, mit der der heute tätige Personalverantwortliche selbst einmal ins Ausbildungsleben (vom Eintritt bis zur Beendigung der Schulzeit), also somit in seine sekundäre Sozialisation, eingetreten war.

In dieser Phase erlernen Kinder von Lehrern neue Muster des Sozial- und Lernverhaltens. Dabei sollten die in der Primärsozialisation eher strukturell vermittelten Werte in der Schule als praktisch erleb- und anwendbar vermittelt werden. Die Standards der Leistungsparameter liegen diesem Lernen zugrunde, das bedeutet z. B., die Kooperation mit Gleichaltrigen und Vorgesetzten wird nachhaltigen Einfluss auf das spätere Autoritätsverhalten bekommen. Soziale Leistung frei zu setzen beginnt demzufolge also schon sehr früh im Leben eines Kindes und lässt mich dann im Umkehrschluss fragen, warum es dennoch in Unternehmen Führungskräfte, Ausbilder oder Personalverantwortliche gibt, die einerseits die „Qualität" jener jungen Ausbildungsplatzsuchenden bemängeln, im Gegenzug selbst aber nur wenig von werteorientiertem Umgang mit ihrem sozialen Kontext halten. Vielen davon wurden sogar Mitarbeiter mit dem Hinweis „Personalführung" anvertraut.

Für die moderne Personalentwicklung ist der Mitarbeiter oder der Lehrling auch "Kunde". Denn dieser ist nur so lange loyal dem Unternehmen gegenüber, wie dieser sich im Wortsinne menschlich behandelt fühlt.
Moderne Personalführung setzt voraus, dass Führungskräfte ihre Mitarbeiter und Ausbilder ihre Lehrlinge schätzen, sich für sie interessieren und aufgrund dessen nach ihren Talenten entwickeln wollen. Zunächst muss also viel soziale Interaktion in die Zusammenarbeit investiert werden, um später davon profitieren zu dürfen.

Jenen auffälligen gesellschaftlichen Entwicklungen hin zu einer immer größer werdenden Schere zwischen Unterschichts- und Mittelschichts-Familien hat die aktuelle Personalpolitik in Unternehmen häufig wenig entgegenzusetzen. Dabei gäbe es drei zentrale Hauptziele, welche diese Dynamik ausgleichen kann:

  1. Veränderungsprozesse benötigen tatkräftige Unterstützung.
  2. Wie beim Prinzip des Treppenkehrens muss von oben nach unten zu wirtschaftlichem Arbeiten angehalten werden.
  3. Das kontinuierliche Lernen auf allen Hierarchieebenen fördern.

Dabei stellt sich jedes Jahr erneut die Frage, ob die Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter überhaupt noch herausforderungsgerecht, sprich: bedarfsgerecht am Markt und den gesellschaftlichen Bedürfnissen ausgerichtet ist. Wenn dieser Aspekt in Vergessenheit gerät, rutscht das einzelne Individuum, für welches schließlich alle Firmen irgendwann einmal gegründet wurden, total vom Radar der Aufmerksamkeit.

Hier sind nun insbesondere die Führungskräfte gefragt. Sie sollten Lernprozesse initiieren, koordinieren, begleiten und kontrollieren. Dies gelingt nur, wenn diese ein tatsächlich aufrichtiges Interesse für ihre anvertrauten Mitarbeiter aufbringen. Dabei sollte bei der Wahl der Fortbildungsmaßnahmen jeder Mitarbeiter individuell, nach seinen Talenten und sinnvoll betreut werden. Hierbei kann das sogenannte Gießkannen-System, das pauschal Einheitslehrgänge „von der Stange" für alle verordnet, nicht die erwünschte Wirkung erzielen.

Der Wert der Kooperation steht auf dem Weg zum Erfolg also in direktem Zusammenhang mit der Mitarbeiter-Zufriedenheit, -Ausgeglichenheit und -Identifikation. Somit steht nicht die Führungskraft, sondern die zu bewerkstelligende Arbeit und derjenige, der sie ausführt, im Vordergrund. Die Integration des Einzelnen, gerade dem jungen Menschen gegenüber, der bisher als „Problemfall" gehandelt wurde, schafft größtmögliche Erfolge beim Schließen der o. g. gesellschaftlichen Schere, indem deren Mentoren, also Ausbilder und Führungskräfte, sich für mehr Offenheit und Transparenz einsetzen.

Die Beschäftigung mit arbeitsplatzbezogenen Themen über die Strategien und Erfolge (auch Misserfolge) des Unternehmens bzw. der betreffenden Abteilung bringen erst die übergeordneten Zusammenhänge für den Einzelnen aufs Parkett.

Meiner Erfahrung nach fehlt es jedoch genau an jenem kooperativen Führungsstil. Hierbei wird immer noch ein besonderer Wert auf sachliche und technische Aspekte der Arbeit gelegt, man sieht Mitarbeiter als bloße „Werkzeuge" zur Erreichung hoher Arbeits- und Gewinnleistung. Wer sich nie mit dem Menschen dahinter (intern wie extern) beschäftigt, braucht sich also nicht um die aktuelle Entwicklung verwundert zu geben.

Stattdessen ist man nur der Meinung, dass man als Führungskraft die Arbeit gut planen müsse, damit die jeweiligen Mitarbeiter diejenigen sein können, die diese Arbeit möglichst formal und störungsfrei abarbeiten. Dies führt nur zu einem, nämlich dass man Mitarbeiter den echten Stellenwert versagt und diese lediglich als funktionierendes „Ausführungsorgan" betrachtet. Der Mitarbeiter wird schlichtweg die klaren Arbeitsanweisungen befolgen, hat aber weder Zugang zu Informationen, noch begreift dieser, warum etwas getan werden soll. Die Eigenverantwortung für die geleistete Arbeit kann gar nicht aktiviert werden.

In einem gut funktionierenden Unternehmen hingegen hat jeder Mitarbeiter Anspruch auf Anerkennung und Kritik. Dies erhöht die Zufriedenheit und das Selbstwertgefühl eines jeden Mitarbeiters und führt zu einer positiven Einstellung zur Arbeit.

Dies wiederum lässt den Rückschluss zu, dass genau jene Jugendlichen, die auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz in die Zweiklassenmentalität rutschen, genau jene aufrichtige Aufmerksamkeit weder zu Hause noch in Schule oder sonstigen Einrichtungen erhalten haben. Es fühlt sich also für diese „normal" an, denn sie kennen es nicht anders. Da Beziehungen nun mal keine Einbahnstraße sind, werden all unsere soziokulturellen Erfahrungen auch in unsere umliegenden Kontexte getragen. Dies gilt für jene Führungskräfte, welche sich mit einem personenorientierten und kooperativen Führungsstil nicht anfreunden können genauso wie für diejenigen „wertfrei" erzogenen Jugendlichen, die wir alle gerne bis Ende des Jahres noch untergebracht und damit versorgt sehen möchten.

Mein Plädoyer – auch aus meiner täglichen Erfahrung heraus als Coach auf Topmanagementebene – besteht darin, selbst bei sich anzufangen, wenn es darum geht, den Wert der „Qualität" mit der Zweiklassengesellschaft in Verbindung bringen zu wollen. Jene viel beschworene Qualität muss seitens der Eltern, Lehrer, Mentoren, Ausbilder, Professoren und Führungskräften, in der täglichen sozialen Interaktion angewandt bewiesen werden, bevor mit dem Finger auf jene gezeigt wird, deren Ausgangssituation noch nicht einmal dafür ausreichend erscheint, Mittelmaß abgeben zu können.

Wie könnte denn sonst das Ausmaß an negativen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft eingedämmt werden und wir alle, besonders jene in Verantwortung Stehende, wieder hin zu einer ethischen Grundhaltung geführt werden, damit wieder autarke, selbstbewusste und von Persönlichkeitswachstum gekennzeichnete Individuen entwickelt werden?

Ich persönlich kann nur jedem zukunftsorientierten Unternehmen empfehlen, da sich die Situation in Elternhaus und Schule in absehbarer Zeit nicht ändern wird, in die soziale Ausbildung/Entwicklung seiner Führungskräfte zu investieren! Dadurch erarbeitet man sich im Sinne des „Employer Brandings" ein attraktives Alleinstellungsmerkmal, kann dem Fachkräftemangel wirksam begegnen und wird seiner vielbeschworenen sozialen Verantwortung endlich gerecht.

Geschrieben von Franziska Ambacher Kategorie Unternehmensführung

Über den Autor

Anne Schüller

Franziska Ambacher

Business-Coach, Changemanagement-Consultant und Mediatorin

„Mehr bewegen, anstatt bewegt zu werden"

Franziska Ambacher unterstützt Entscheider und die, die es werden wollen, dabei, einen wertegestützten und sozial kompetenten Führungsstil zu etablieren. Als Expertin für Beziehungsarchitektur, als Business-Coach und Changemanagement-Consultant legt Frau Ambacher ihr Hauptaugenmerk auf den systemischen Ansatz (Wechselwirkung zwischen Individuum, Team und Organisation), um ihre Klienten zu ermutigen, für sich selbst und ihr Lebensumfeld Verantwortung zu übernehmen. Des Weiteren bewusste Entscheidungen zu treffen, die Konsequenzen zu bedenken und für die eigenen Entscheidungen und Handlungen einzustehen.

Zentral sind hierbei nicht nur neue Impulse, sondern vor allem auch die gewinnbringenden Veränderungen im Miteinander einer Organisation. Die Beziehungskultur aller Akteure untereinander ist ausschlaggebend, weshalb der, der Leistung fordert, auch Sinn bieten muss.

Ihr persönliches Credo „Mehr bewegen, anstatt bewegt zu werden" entspricht dem aktuellen Bruch konservativer Arbeitsformen, dem Abbau von Hierarchie und dem Umbau hin zu Netzwerken, damit Mitarbeiter verantwortungsbewusst und begeistert an einem Strang ziehen und Innovation zum festen Teil einer herausragenden Unternehmenskultur wird.

Franziska Ambacher
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