Bürgertum, Werte und Führungskräfte
Am 21. Oktober 2012 hat Stuttgart einen neuen Oberbürgermeister gewählt, den Grünen Fritz Kuhn. Dem Ausgang der Wahl entsprechend, mutmaßten Journalisten der "Süddeutschen Zeitung" vom 27. Oktober 2012 in ihrem Artikel „Die neue Bürgerlichkeit", dass sich ein neues Bürgertum entwickelt, welches großstädtisch geprägt, wertebewusst, an Kirche interessiert, im Kern konservativ sei und dabei grün wählt.
Wahlen signalisieren natürlich den Puls der Zeit und vielleicht ist es Ihnen auch schon begegnet, dass die aus früherer Zeit stammenden Grundsätze Ihres Verhaltens aktuell nicht mehr taugen, um die Gegenwart bzw. die Zukunft zu gestalten.
Unabhängig davon, wie man politisch dazu stehen mag, ist es dennoch auffällig, wo uns überall Begrifflichkeiten wie Werte und Authentizität in Kombination mit althergebrachten Kaufmannstugenden (Integrität, Nachhaltigkeit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Maßhalten) in Verknüpfung gebracht werden.
Bisher eher nur durch Zäsuren von Krisen ausgelöst, wird die ehemalige Dominanz eines Renditedenkens wieder stärker von ethischem Wirtschaften abgelöst. Wie weit sich dabei Unternehmer bei der Betrachtung ihrer zukünftigen Unternehmenskultur bezüglich Werteorientierung anstatt Quartalsberichtorientierung aus dem Fenster lehnen möchten, wird mancherorts erst dann bewusst, wenn der Kunde bereits mit den Füßen abstimmte. Jeder erinnert sich beispielsweise noch an die diesjährigen Schlagzeilen zu Anton Schlecker, der sich weigerte, den Kulturwandel in sein Unternehmen einziehen zu lassen, also an seinen überholten Wirtschafts- und Personalkonzepten rütteln zu müssen.
Glaubt man den in Baden-Württemberg erzielten Wahlerfolgen der Grünen, dann wären Verantwortungsbewusstsein, Solidarität und ganzheitlicher Gesellschaftsbezug die Orientierung, welche wieder in Politik oder in Unternehmen zählen. Was wären wir demzufolge dann tatsächlich in der Lage zu bewegen? Könnte nicht jedes singuläre Produkt oder die dafür nötige Dienstleistung so optimiert werden, dass schließlich alle was davon hätten?
Demzufolge müssten sich Unternehmen ganz anders mit Menschen beschäftigen, sowohl mit demjenigen, der am Ende ihrer Innovations-, Produktions- und Auslieferungskette steht, also dem sogenannten Kunden, als auch in gleichem Atemzug mit deren progressiven Mitarbeitern. "Wie anders?" werden Sie nun fragen. Die Erfüllung von Kunden- und Mitarbeiterwünschen schreibt sich so gut wie jedes Unternehmen auf die Fahnen. In der Realität jedoch verkommen beide Seiten einer Medaille in unterschiedlichsten Arbeitsprozessen eher zum Störenfried.
Schlussfolgernd fasst nicht jeder gleichermaßen eine Herausforderung zur aktiven Gestaltung auf, viele empfinden diese eher als Bedrohung. Unter solchen Vorzeichen wird wohl selten ein Unternehmensmitglied noch etwas bewegen wollen. Welche Interessensgebiete gehen grundsätzlich über die notwendigen lebenserhaltenden Maßnahmen hinaus? Findet der Wert der Selbstverwirklichung aktuell noch dankbare Abnehmer an ihrem Arbeitsplatz? Wenn die Art, wie Mitarbeiter- und Kundenbedürfnisse ignoriert werden und der Endverbraucher nur noch seine persönliche Konsumbefriedigung im Sinne einer Wegwerfgesellschaft rücksichtslos auslebt, Ausdruck eines „neuen Bürgertums" sein soll, rangieren Integration und Vertrauen bereits weit abgeschlagen auf einer demokratisch ausgerichteten Werteskala.
Vielleicht ist es Ihnen in dem Zusammenhang auch schon ab und zu passiert, dass Sie als derjenige, der etwas gestalten, bewegen und inspirieren will, den Eindruck gewinnen mussten, dass Sie selbst wohl eher als billiger Unterhalter, Entscheider oder Vorturner angesehen und damit missbraucht wurden.
Für viele Menschen ist es einfach in Ordnung, dass man sich z. B. von Managern mental versklaven lässt, welches wiederum nach jahrelanger Einübung auch dazu führen muss, dass die Eigeninitiative und das damit verbundene Verantwortungsbewusstsein völlig versanden. Für viele Menschen ist es aber anders herum genauso in Ordnung, dass wiederum sie selbst Menschen mental versklaven, z. B. in ihrer Eigenschaft als Manager.
Laut dem im oben erwähnten Zeitungsartikel befragten Soziologen Heinz Bude (Hamburger Institut für Sozialforschung) geht es darum, wieder ein Leben von Bedeutung führen zu wollen, dabei nicht ständig nur von Werten zu reden, sondern sich durch das Handeln zu bewähren, um so eine neue Alltagsmoral zu begründen. Demnach spielen klassische Tugenden des Bürgertums – Anstand, Ehre, Pflichtgefühl – noch eine Rolle.
Der Soziologe spricht davon, dass es im Sinne einer anständigen Gesellschaft z. B. einfach nicht gehe, dass man Mitarbeiter 60 Stundenwochen arbeiten lasse, sie dann aber mit 800 € nach Hause schicke. Demzufolge wünsche sich das neue Bürgertum ein einigermaßen befriedetes soziales Umfeld und sei auch bereit, sich das etwas kosten zu lassen. Wie befriedet jedoch kann der soziale Kontext tatsächlich sein, wenn die Realität im täglichen Miteinander uns eher suggeriert, dass der ethischste Wert Altruismus weder innerhalb von Unternehmen noch außerhalb auf deren Interaktionsplätzen gelebt wird?
Auf die Frage der Süddeutschen hin, ob dies nicht eher eine neue „Kuschelbürgerlichkeit" sei, antwortet Herr Bude, dass es sich hierbei um Menschen handeln würde, die sogar sehr leistungsbereit und alles andere als gegen Wachstum eingestellt seien. Diese wollten nur eine andere Art von Wachstum. Im Grunde das, was sich bei den Protesten gegen Stuttgart21 schon angedeutet habe: Man könne nicht mit der Dampfwalze über die Welt fahren, sondern müsse sich auch ökologisch klug verhalten. Das sei seiner Ansicht nach nicht „kuschlig", sondern er halte dies für eine relativ intelligente Position. „Wer die als Politiker nicht bedient, hat kaum eine Chance." Leiten demzufolge Unternehmensführer tatsächlich ihre darin begründeten Chancen für ihren internen und externen Wettbewerb ab?
Wenn man sich demzufolge die aktuelle Führungskräftebefragung 2012 der Deutschen Werte-Kommission in Zusammenarbeit mit der Universität Duisburg-Essen, dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und dem Steinbeis Transferzentrum ISL, heranzieht, wird offensichtlich, dass belastbare und glaubwürdige Wertesysteme einen bedeutenden Beitrag zum dauerhaften Unternehmenserfolg leisten können.
Die überwiegende Mehrheit der Führungskräfte erwartet zudem, dass der Stellenwert von Werten in Unternehmen in den kommenden Jahren noch weiter steigen wird. Also auch innerhalb von Unternehmensstrukturen zeichnet sich ein neues Bürgertum ab.
Der Auffassung der Wertekommission nach vertritt diese die Überzeugung, dass man nur auf der Basis ethischer Werte langfristig erfolgreiche Entscheidungen treffen könne, da Werte Sicherheit geben, Effizienz steigern und Ökonomie stabilisieren. Dieser Auffassung schließe ich mich uneingeschränkt an, weshalb ich aus meinem eigenen Fokus heraus längst zum Überzeugungstäter geworden bin. Für mich spielen hierbei wissenschaftliche Beweise keine zentrale Rolle, denn die Praxis zeigt mir längst, was tatsächlich von wem, warum und wie gelebt wird. Demnach ist es eine traurige Praxis. Denn wenn der Mensch generell sich zunächst einmal nur um seine persönlichen Interessen kümmert, dabei also nur sein Karrieredenken im Auge behält, wo bleibt dann noch die Ethik, so, dass alle was davon hätten? Machen sich Führungskräfte bewusst, dass sie mittels ihrer anvertrauten Mitarbeiter auch einen gesellschaftlichen Auftrag erteilt bekommen haben?
Bestünde innerhalb des neuen Bürgertums echte Leistungsbereitschaft, die mittels gelebte Werte konstruktive Kritik und/oder Feedback realisiert, so könnten niemals so viele Kofferträger auf den Unternehmensfluren unterwegs sein. Dann könnte niemals herrschende Angstkultur die Kultur der Herrschenden sein. Demnach agieren aktuell doch noch viel zu viele Manager und keine Führungspersönlichkeiten, auch wenn revolutionäres Wahlverhalten scheinbar eine andere Sprache spricht.
Meiner Meinung nach liegt der Soziologe Bude völlig richtig, denn seiner Auffassung nach gehe es dieser Klientel lediglich um Bewahrung. Wer jedoch nicht wirklich bereit ist, die herausforderungsgerechten Veränderungen und die daraus resultierenden Fragen unserer Gesellschaft zu beantworten, schreibt keine Geschichte, sondern wird Geschichte. Es gibt demnach noch viel zu tun, was die zentrale Notwendigkeit von werteorientiertem Führungshandeln angeht.